#3 Raue Werften

3.3 Ein Tag auf der Werft

So langsam bekam ich einen routinierten Tagesablauf.

Pünktlich um sechs Uhr morgens klingelte stets der Wecker. Müde kroch ich dann aus dem Bett, stellte schlaftrunken die Kaffeemaschine an und weiter ging’s unter die Dusche. Dann zog ich mich an und machte mich anschließend auf den Weg zur Arbeit. Unterwegs holte ich mir immer bei Freds Teigwaren-Stand ein paar Brötchen für den Tag und fuhr mit der Tram zusammen mit anderen Workern zur Arbeit.

 

Nur selten erwischte ich einen der wenigen Sitzplätze, denn die Bahn war irgendwie immer voll. Morgens erkannte man ganz klar die beiden Lager der Menschen, die in der Stadt lebten – die einen waren motiviert, gesprächig und über ihr Mobiglas schon früh im Geschäft. Die anderen sahen aus, als hätten sie nachts zu lange und zu tief ins Glas geschaut. Sie schauten griesgrämig aus ihrer Wäsche und außer einem Brummen oder Knurren bekamen sie kaum einen Ton heraus. Und dann gab es da noch mich, irgendetwas dazwischen. Verschlafen und müde aber auch schon aufmerksam und neugierig. 

Interessierte beobachtete ich stets die Leute um mich herum, sah ihnen zu, was sie so machten oder lauschte ihren Gesprächen. Ich selbst war mit meinen Gedanken immer überall und nirgends, um mich herum das geschäftige Treiben der Fahrgäste, die an den Stationen ein- und ausstiegen. Für Jemanden, der schon lange in einer Großstadt lebt, wahrscheinlich Alltag. Meine Eltern wohnten aber außerhalb der Stadt in einer kleinen und ruhigen Siedlung. Es waren verschiedene Welten. An den Fahrgästen erkannte man immer genau, wie weit wir uns vom Zentrum der Stadt entfernten. Anfangs, in der Nähe vom Lorville-Tower, waren viele Geschäftsleute in der Tram. Je weiter der Zug aber durch die Frachthäfen in Richtung Randbezirke fuhr, umso weniger Geschäftsleute waren im Zug. Dafür stieg die Zahl der Arbeiter.

 

 

Nicht nur die Haltestellen wurden düsterer und dreckiger, auch den Fahrgästen sah man ihre harte Arbeit und das genauso harte Leben an. Einige kannte ich vom Sehen her von der Werft, andere waren mir völlig fremd. Kurz vor acht Uhr hielt der Zug dann in der Nähe von Scrapper, der Werft, an die ich meine Seele verkauft hatte, wie einige witzelten. Es waren noch ein paar hundert Meter Fußweg zwischen Lagerplätzen und Haufen von Rohstoffen hindurch. Weit über mir leuchtete das Licht Stantons, das den Tag erhellte, das Brummen dutzender Raumschiffe, Laster und Schwebefahrzeugen erfüllte die Luft. Es war laut, dreckig und für viele bestimmt ungemütlich, aber ein Freigeist wie ich, der jahrelang nur Luxus, Sauberkeit und Ordnung gekannt hatte, genoss diesen Trubel der einfachen Leute. 

 

Pünktlich um acht Uhr war ich an diesem Morgen auf der Werft, meldete mich bei York, meinem direkten Vorgesetzen, stempelte mich ein und holte meine Schlüssel. Ich schloss die Garage zu meinem Schaufler auf, zog mir drinnen meine Arbeitskleidung an und legte meine Brötchen auf einen kleinen Tisch, der in der dunkelsten und hintersten Ecke stand. Darüber hing ein Poster einer Carrack, wie sie in einem Asteroidenfeld mit ausgefahrenen Scanner-Antennen auf Expeditionstour war. Nach einer kurzen stillen Minute atmete ich tief durch, stieg auf den Schaufler und löste die Feststellung, um gleich danach wieder herauszuspringen. Mit einem kräftigen Schubser rollte der Schaufler quietschend langsam aus der Garage. Ich schloss die Garage, nachdem er draußen war, und rannte meinen noch immer rollenden Schaufler hinterher. Nach wenigen Metern holte ich ihn ein, sprang in die Kanzel und startete den Motor.

 

 

Ein lautes Dröhnen ließ die Maschine erbeben und dicke Rußwolken wurden am Heck aus den Rohren geblasen – das war der Grund, warum ich meinen Schaufler aus der Garage rollen ließ, anstatt ihn gleich in der Garage zu starten, wie es alle anderen Fahrer machten. Auch hier war ich eigen, aber nachdem ich an meinem ersten Tag meine gesamte Garage zugeräuchert hatte und überall schwarzer, ekliger Ruß klebte, beschloss ich, den Schaufler nie wieder in der Garage zu starten. Später beim Zurückfahren und Abstellen war das nicht mehr so schlimm, da der Schaufler, wenn er erstmal heiß gelaufen war, seine Abgase selbst reinigte und den Ruß sogar als Festbrennstoff mitverwendete. Nur beim Anlassen blies er eben erst einmal kräftig alles durch. 

 

Zu Beginn prüfte ich alle Funktionen und Systeme durch und fuhr quer über die Außenanlage der Rohstoffverarbeitung, um zum Wareneingang zu gelangen. Hier kamen rund um die Uhr Lieferanten und brachten alles Mögliche, was wir einschmelzen oder anderweitig als Rohstoff zur Weiterverarbeitung nutzen sollten. Diese Rohstoffe galt es von den Wühlern zu zerkleinern und zu sortieren, damit sie anschließend in die entsprechenden Schmelzöfen transportiert werden konnten.

 

Diese „Never-Ending-Story“ war meist eintönig. Ich fuhr zu einer gefüllten Ladebucht, positionierte mich zwischen dieser und den Wühlern und schaufelte die Schottteile grob sortiert in die Wühler. Hierbei musste ich vor allem darauf achten, dass keine gefährlichen Gegenstände dazwischen lagen. Nicht selten wurden ganze Flügel von Raumjägern abgeladen und die Raketen oder Waffen hingen noch an ihnen. Solche Teile müssen dann sauber und vorsichtig beiseitegeschafft werden, sodass andere Arbeiter diese dann von Hand demontieren konnten. Auch Inneneinrichtungen von Raumschiffen versuchte ich von der Schiffshülle zu trennen oder sortierte sie entsprechend aus, da man die Sitze beispielsweise wiederverwenden konnte. Nicht selten nahmen Mitarbeiter unbrauchbare Ausstattungsteile mit nach Hause, um diese in ihren Speedern einzubauen oder sie funktionierten sie als Sitzecke um. So fuhr ich den ganzen Vormittag von einer vollen Bucht zur nächsten, sortierte die Materialien in die Wühler und gab die leere Bucht wieder frei, damit der nächste Lieferant seinen Schrott in die Bucht abwerfen konnte.

 

Je nach Auftragslage machte ich gegen zwölf Uhr meine Mittagspause. Hierfür fuhr ich zurück zu meiner Garage, stellte den Schaufler davor ab, holte meine Brötchen und setzte mich nach einer kleinen Kletteraktion auf dessen Dach. Hier hatte ich einen netten Ausblick und konnte den Maschinen und anderen Arbeitern bei Ihren Tätigkeiten zusehen. Etwa zur gleichen Zeit machten aber auch viele der anderen ihre Pause, sodass ich meine Kollegen in ihren kleinen Grüppchen zusammensitzen sah. Viele redeten über Gott und die Welt, ihre Familien oder was am Vortag passiert war. Ab und an wurden Speisen untereinander getauscht, was ihre Frauen sicher nicht erfahren sollten, und manchmal wurde auch gestritten. Egal, ob es um das vermeintlich bessere Essen eines Kollegen ging, um Spielschulden oder einfach aus Langeweile – einen Grund fand immer irgendwer, um seine Fausthiebe zu rechtfertigen. Etwa eine Stunde später machte ich mich wieder an meine Arbeit. Ich brachte meine Sachen zurück in die Garage, fuhr zum Tanken und anschließend zu meiner Ladebucht zurück.

 

Doch an diesem Tag sollte alles anders werden. Kurz bevor ich an den Wühlern vorbeifuhr, ließ ein lauter Knall alle aufschrecken. Neben den Wühlern, bei einer der Waffendemontagen, war es zu einer Explosion gekommen. Sofort rannten alle Kollegen in der Nähe zum Unfallort. Der Feueralarm wurde ausgelöst und Warnanlagen leuchteten und heulten ohrenbetäubend. Auch ich nahm sofort mit meinem Schaufler Kurs zur Unfallstelle. Für die Arbeiten am Schmelzofen gebaut, bot die Kanzel einen guten Schutz vor Flammen und kleinen Explosionen. Am Unfallort herrschte pures Chaos. Gut 20 Mitarbeiter versuchten gegen die Flammen anzukommen und einen Weg in ein kleines Gebäude zu finden. Das Gebäude, eher einer größeren Garage ähnlich, war halb eingestürzt und Flammen schlugen in alle Richtungen.

„Hilfe! So helft mir doch! Ich bin eingeklemmt!“, drangen Schreie aus dem Inneren.

 

Wo blieben bloß die Brandbekämpfer? Genau für solche Brände hatten wir doch eine extra ausgebildete Truppe. Die mussten doch schon längst hier sein, aber weit und breit war kein Anzeichen, dass sie unterwegs waren. Kurz entschlossen fuhr ich näher an das Haus heran und begann mit meinem Greifarm die Trümmerteile beiseite zu Räumen. Schnell schalteten drei Mitarbeiter und verteilten sich so an der Unfallstelle, dass sie mir weitere präzise Anweisungen geben konnten, um den verschütteten Mitarbeiter zu befreien. Nach wenigen Minuten hatten wir es gemeinsam geschafft. Vorsichtig brachte ich meinen Greifarm in Position und zusammen mit einer Metallplatte, auf der der Kollege lag, holte ich ihn aus dem Trümmerfeld.

 

 

Kaum hatte ich ihn in meinen Fängen, kamen endlich auch die Brandbekämpfer an, verschafften sich rasch einen Überblick über die Lage und begannen mit ihrer Arbeit. Während sich der Großteil um die Brandbekämpfung und Kühlung der anderen Waffen kümmerte, liefen vier Sanitäter zu dem verunglückten Mitarbeiter, den ich soeben mit dem Greifarm in sicherer Entfernung abgelegt hatte. Sogleich wurde er medizinisch behandelt. Ich schaltete meinen Schaufler aus und kletterte aus der Kanzel, um nach dem Kollegen zu sehen. Doch ich kam kaum einen Meter weit, als mich ein Kollege an der Schulter herumriss, mit seiner Rechten ausholte, um mir mit einem High-Five zu gratulieren. Plötzlich standen alle Umstehenden um mich herum und jeder klopfte mir auf die Schulter oder den Rücken. Langsam, wie durch zähen Honig, bahnte ich mir einen Weg zu dem verunfallten Kollegen, um zu sehen, wie es ihm ging. Doch, ehe ich ihn erreichen konnte, wurde er in eine Cutlass Red gebracht und weggeflogen. 

 

„Das war echt klasse von dir“, lobte einer meiner Kollegen, „du hast absolut ruhig einen kühlen Kopf bewahrt. Die Idee mit dem Schaufler war einfach genial. Er ist bestens geschützt und du hast scheinbar ein gutes Händchen an den Joysticks.“

 

„Dank dir wird er in ein paar Tagen wieder voll genesen sein“, ergänzte einer der Sanitäter, bevor er mit seinen Kollegen die Unfallstelle verließ. Als ich mich zu meinem Schaufler umdrehte, um meine Arbeit wieder aufzunehmen, erblickte ich York abseits, wie er angeregt mit zwei Kollegen diskutierte. Leider konnte ich nicht hören, was sie besprachen, aber York musste gemerkt haben, dass ich sie beobachtete, nickte mir zu und forderte beide auf, ihm zu folgen. Ich stieg wieder in mein Baby, ließ die Motoren aufheulen und fuhr wieder zurück an meine Arbeit.

 

Was für eine Mittagspause.

 

 

Gegen 14 Uhr hatte ich dann alle angelieferten Rohstoffe in die nimmersatten Wühler geschaufelt. Weitere Lieferanten waren für heute nicht angekündigt, womit mir bis zum Feierabend etwas Leerlauf blieb. Diese Zeiten nutzte ich generell, um mit dem Schaufler auf der anderen Seite der Wühler zu helfen und mehr über das Zerlegen von Schrottteilen zu lernen. Hierbei transportierte ich große Stücke oder half beim weiteren Zerkleinern. Anschließend warf ich die Teile entweder erneut in die Wühler oder direkt in den entsprechenden Schmelzofen. Die Öfen schmolzen selbst das härteste Metall. Die Hitze, die diese ausstrahlten, wäre ohne schutzisolierte Kanzel nicht zu ertragen gewesen. Mein Vorgänger musste bereits nach einem Monat die Werft verlassen. 

 

Seine Haut konnte der Hitze schlicht nicht standhalten und verbrannte ständig. Anfangs war seine Haut nur gerötet, aber bereits nach zwei Wochen am Ofen kamen die ersten Blasen, die durch seine Kleidung aufscheuerten und das austretende Wundwasser regelrecht verdampfte. Keiner konnte sich das erklären. Seine Schutzkleidung wies keine Mängel auf und auch sein Schaufler war intakt, aber trotzdem half alles nichts. Als ich davon hörte, lief mir ein Schauer den Rücken hinunter, da ich nun seinen Posten und somit seinen Schaufler übernommen hatte. Doch bei mir war bisher nichts zu sehen – keine Rötung, keine Blasen. Anfangs hatte ich mich täglich auf Rötungen untersucht und war erleichtert, dass es mir nicht so erging. Mittlerweile glaubte ich, dass sie einfach nur Märchen erzählt hatten.

 

Nachdem ich nachmittags meine Arbeiten erledigt hatte, fuhr ich meinen Schaufler zur Reinigung und spülte den Schmutz grob mit einer Reinigungslösung ab. Anschließend stellte ich den gereinigten Schaufler wieder in meine Garage, zog meine Schutzkleidung aus, nahm meine Sachen und ging zurück zu York. Bevor ich Feierabend machen durfte, meldete ich mich immer noch einmal bei ihm und erkundigte mich danach, ob er für die folgende Nacht wieder etwas für mich hatte. Diesmal hatte er jedoch keine Nachtlieferungen. Daher stempelte ich mich aus und mache mich auf den Weg zurück nach Lorville. An der Haltestelle traf ich wieder viele der Leute, die auch morgens mit mir hier ausgestiegen waren. Allen sah man den harten und langen Arbeitstag an. Manche erkannte ich vom Unfall heute Mittag wieder und wir tauschten kurze Blicke aus. Vereinzelt bekam ich noch ein Lob. Einige hatten sich auf der Arbeit umgezogen, andere trugen noch immer ihre schmutzigen Arbeitsklamotten. Alle waren wir müde und erschöpft.

 

 

„So übel bist du ja gar nicht“, sagte einer neben mir.

 

Rumpelnd und quietschend kündigte sich die Bahn an, als sie sich der Haltestelle nährte. Nicht selten klemmten die Türen und wir quetschten uns in die Wagons. Nur wenige unterhielten sich, die meisten waren zu erschöpft und so lag eine drückende Stille über der Szenerie. Ich hatte nur einen Stehplatz bekommen und musste mich an einer Stange festhalten, um bei dem Gewackel nicht umzufallen. Nach etwa zehn Minuten erreichten wir den Rand von Lorville und drei weitere Wagons wurden dem Zug angehängt. Sofort strömten die verschiedensten Geschäftsleute in ihren Anzügen gekleidet, teilweise telefonierend oder ihre Aktentaschen umklammernd, in die Wagons. Anders als die eher still grummelnden Arbeiter, herrschte unter den Geschäftsleuten reges Treiben und Gerede. Nur wenige Sekunden später rumpelte die Bahn weiter, hielt hin und wieder an kleineren Haltestellen, bis sie nach weiteren 15 Minuten im Untergrund von Lorville ankam. Nach und nach wurden die Türen der Wagons geöffnet und wir ergossen uns über die Wege und durch die Gassen in die Stadt. Jeder steuerte nun seine individuellen Ziele an. Teilweise schlugen kleine Grüppchen direkt den Weg zur nächsten Bar ein, andere verschwanden auf mysteriöse Art und Weise in den dunklen Seitengassen, wieder andere gingen wie ich zu ihren Unterkünften.

 

 

Dort angekommen legte ich meine Kleider in den Reiniger und stellte mich unter die Dusche. Endlich Feierabend! Das prasselnde Wasser belebte meine Sinne. Wie neu geboren, obgleich noch immer erschöpft vom Tag, zog ich mir etwas Lockeres an und mischte mich auf den Straßen Lorvilles unter die Menschen. Ich suchte mir etwas Kleines zum Abendessen. Hin und wieder ließ ich mich auch auf eine Runde der vielen Glücksspiele ein. Vor allem das Hütchenspiel ist immer herrlich zu beobachten, da die meisten es scheinbar nicht schafften, der Kugel zu folgen. Dabei ist es doch super einfach! Einmal schien der Spieler seine eigenen Kugeln aus den Augen verloren zu haben, was mir einen besonders saftigen Sieg einheimste, als ich auf den richtigen Becher zeigte. Aber man musste echt aufpassen, wenn man zu oft gewann, wurden sie misstrauisch und man sollte dann schnell und flink genug sein, um den gierigen Geldhaien zu entkommen. 

 

 Eher selten führte mich mein Weg auch mal in die örtliche Bar. Hier kann ich Whisky-Cola jedem empfehlen, da man dann beim Billard einfach jeden Schlag trifft. Aber ohne eine feste Clique war es leider recht schnell langweilig, sodass es mich früher oder später wieder zurück in meine Unterkunft zog, wo ich mir eine Lehraufzeichnung vornahm und mir vor dem Schlafengehen noch etwas über Bordsysteme oder die Beschaffenheit diverser Materialien aus dem Raumschiffsbau aneignete. Schließlich wollte ich nicht mein Leben lang nur Schaufler fahren. So galt mein letzter Gedanke des Tages oft auch weiterhin meinen Zielen, eines Tages als Techniker an Bord einer Carrack zu arbeiten und die Weiten des Universums zu bereisen.

 

 

So neigte sich der Tag dem Ende, bis mich der Wecker am nächsten Tag wieder um 6 Uhr aus dem Schlaf reißen wird.